Eine wundervolle Weihnachtsgeschichte:
Der Mann hastet durch die weihnachtliche
Einkaufsstraße. Er muss wohl um die 40 Jahre alt sein, dem
Äußeren nach zu urteilen. Der Mann schwitzt
und keucht, früher war er besser in Form gewesen. In der
linken Hand trägt er einen Aktenkoffer, in der rechten zwei
riesige Einkaufstaschen. Darin befinden sich allerlei Geschenke,
denn heute Abend ist DER Abend: Heiligabend. Plötzlich steht
da dieses kleine Mädchen im Wege, die beiden stoßen
zusammen und stürzen zu Boden.
„Mensch, pass doch auf, kleines
Ding!“, herrscht er das Mädchen an, während er sich
aufrappelt.
„Was hab ich denn getan?“, fragte das
Mädchen mit zittriger Stimme. Sie ist ungefähr 8 Jahre
alt.
„Warum schaust du nicht, wohin du
gehst?“
„Aber du hast mich doch umgerannt.“
Sie fängt an zu weinen.
Dem Mann tut es leid. „He, Kleine, war ja
nicht so gemeint. Ich bin nur ziemlich im Stress. Habe es
eilig.“Nervös blickt er auf seine Uhr.
„Aber deswegen musst du doch nicht so
böse sein.“ Das Mädchen wischt sich mit den
Händen die Augen trocken.
„He, es tut mir leid, Kleine. Komm, ich
spendier dir was Süßes. Als Entschuldigung.“
Eigentlich hat er ja keine Zeit, muss noch die
restlichen Geschenke einkaufen. Aber gut, fünf Minuten.
Die Augen des Mädchens strahlen.
„Danke, das ist lieb von dir.“
Der Mann betrachtet die kleine Gestalt vor sich.
Sie wirkt sehr ärmlich angezogen, aber sie strahlt auch etwas
seltsam Reifes aus. Ihr Gesicht ist ungewöhnlich ernst, aber
es erscheint auch sehr friedlich. Die langen, dunklen Haare
unterstreichen ihre wunderschönen, tiefbraunen Augen. Der Mann
kauft eine Tüte Süßigkeiten, dann setzen sich beide
auf eine Bank in der Einkaufszone.
„Hast du es immer so eilig?“, fragt
das Mädchen.
„Ja, meistens. Und heute besonders, es ist
ja Heiligabend. Ich muss doch noch Geschenke kaufen.“
„Aber du hast doch schon so viele, oder
nicht?“, fragt das Mädchen mit einem Blick auf die
beiden Einkaufstaschen.
„Ja, da hast du recht. Man soll es auch
nicht übertreiben.“
Die Augen des Mädchens richten sich auf sein
Gesicht. Sie hat unglaubliche Augen, fast ist es dem Mann, als
würde sich ihr Blick in die Tiefe seiner Seele bohren und dort
nach etwas suchen.
„Warum rennen die Erwachsenen immer
so?“, fragt das Mädchen.
„Weil sie es eilig haben, Kleine. Es gibt
viel zu tun, viel zu erledigen. Wir haben nicht so viel Zeit wie
Kinder.“
„Was meinst du?“
„Na, genieße lieber die Zeit, in der
du hier noch spielen kannst. Wird nicht mehr lange
währen.“
Im gleichen Moment, in dem er diese verbitterte
(neiderfüllte?) Antwort gegeben hat, ärgert er sich
darüber, dies einem Kind gegenüber getan zu haben.
„Werde ich als Erwachsener nicht mehr
spielen können?“, will das Mädchen wissen.
„Doch, wenn du Zeit dazu hast“,
antwortet der Mann, um sie zu beruhigen.
„Aber ich spiele doch jetzt auch nur, wenn
ich Zeit dazu habe.“
„Ja, nur wirst du später kaum noch
Zeit dazu haben.“
Das Mädchen blickt einen Moment zu Boden:
„Warum nicht?“
„Das ist, glaube ich, immer so, wenn man
erwachsen wird. Man spielt dann nicht mehr.“
„Ist es denn dann verboten?“
„Nein, Kleine, natürlich
nicht.“
„Hast du denn nicht gerne
gespielt?“
„Doch, ich habe sogar sehr gerne
gespielt.“
„Aber wenn es nicht verboten ist, und wenn
es dir Spaß macht, warum spielst du dann nicht
mehr?“
Der Mann blickt nervös drein. Erinnerungen
werden wach. Erinnerungen an diese großen Blumengewächse,
die hinten im Garten des Hauses der Großeltern standen, und
deren farbenprächtige Blüten so himmlisch dufteten.
Beinahe ist es ihm, als läge dieser Wohlgeruch in der Luft,
als könne er diese Blumen wieder riechen, jetzt, nach all der
langen Zeit. Warum kommt ihm bei Erinnerungen an seine Kindheit
immer wieder dieses Bild in den Sinn, wie er gemeinsam mit seinem
Großvater vor diesen Blumen steht? Mitten im Sommer. Warum
immer dieses Bild? Ein Zupfen an seinem Mantel reißt ihn aus
seinen Gedanken.
„Träumst du?“, fragt das
Mädchen.
„Nein, nein. Entschuldigung.“
„Warum also spielst du nicht
mehr?“
„Weil ich keine Zeit mehr dazu habe. Ich
muss viel arbeiten.”
„Macht dir denn die Arbeit
Spaß?“
„Ehrlich gesagt, nicht mehr richtig. Sie
hat mir mal sehr viel Spaß gemacht, aber jetzt nicht
mehr.“
„Warum gehst du dann noch da
hin?“
„Weil ich Geld verdienen muss.“
„Wofür?“
„Ich habe eine Frau und einen kleinen
Jungen. Ich muss das Essen und die Wohnung bezahlen.“
„Magst du deine Frau und deinen
Jungen?“
„Ja, natürlich mag ich sie. Ich mag
sie sogar sehr.“
„Und sie mögen dich auch?“
„Natürlich!“, erwidert der Mann
in fast schon barschem Ton.
Aber er weiß, dass es nicht so ist. Es ist
nicht selbstverständlich, es ist einer Frage wert. Wie oft
sieht er seine Frau und seinen Sohn? Wann nimmt er die beiden
bewusst wahr? Während der Woche unzählige
Überstunden, Dienstreisen, Geschäftsessen. Am Wochenende
endlich Zeit für seine Hobbies…
„Bist du jetzt böse mit
mir?“
„Nein, Kleine, sicher nicht. Tut mir
leid.“
„Ist doch nicht schlimm.“
„Weißt du, manchmal hasse ich mein
Leben, so, wie es ist. Das gehört wohl auch oft zum
Erwachsensein dazu.“
„Was heißt das?“ Mit großen
Augen schaut das Mädchen den Mann an.
„Was genau meinst du?“, fragt der
Mann nach.
„Du hast gesagt ‘manchmal hasse ich
mein Leben‘. Was heißt das? Ich kenne das
nicht.“
„Das ist schwierig zu erklären. Und
vielleicht auch nicht das Richtige für dich.“
„Ich möchte es aber wissen!“ Die
Augen des Mädchens blitzen.
„Immer sagen die Erwachsenen, das wäre
noch nichts für mich, ich würde es noch nicht
verstehen.“
„Gut, ich will´s versuchen. Hast du
schon einmal richtig Angst gehabt?“
„Ja, schon sehr oft.“
„Siehst du, wenn du richtig Angst hast und
glaubst, jemand anders trägt daran die Schuld oder könnte
etwas dagegen tun, dann bekommst du so ein Gefühl wie
Hass.“
„Also, wenn ich Angst habe und mir keiner
hilft, dann hasse ich?“
„Hm, nein, so einfach auch wieder nicht. Es
muss mehr sein.“
„Was meinst Du mit ‘es muss mehr
sein‘?“
„Warte, ich versuch es anders. Stell dir
vor, du wünscht dir etwas von ganzem Herzen, und du bekommst
es nicht. Es gibt jemanden, der könnte es dir erfüllen,
aber er tut es nicht. Dann bekommst du so ein Gefühl wie
Hass.“
„Also hasse ich, wenn ich mir etwas von
jemandem wünsche und es nicht bekomme?“
„Nein, das wäre auch zu einfach. Es
muss mehr sein!“
„Was meinst du dann mit ‘es muss mehr
sein‘!“
„Ich weiß nicht, wie ich es dir
erklären soll. Hass ist ein ganz böses Gefühl, ein
ganz böser Gedanke. Er macht dich blind, er macht dich
böse, er macht dir ein trauriges Gesicht. Du fühlst dich
dann manchmal richtig matt, ganz so, als wärest du krank. Es
ist schwierig, das zu beschreiben. Aber Hass hat auch immer etwas
mit Sehnsucht zu tun.“
„Sehnsucht!“, strahlt das
Mädchen, weil es ein Wort aus der
„Erwachsenen-Welt“ kennt. „Das kenne ich. Ich
weiß, was das ist.“
„Du weißt, was Sehnsucht ist?“,
fragt der Mann verwundert.
„Ja, ich weiß das.“
„Erklär es mir“, sagt der Mann
neugierig.
„Sehnsucht ist, wenn du dir jemanden
wünscht, der dich lieb hat, jemanden, der dich in den Arm
nimmt, einfach nur so, jemanden, der dich ins Bett bringt und deine
Hand hält, bist du eingeschlafen bist, jemanden, der dir
morgens das Butterbrot schmiert und dir heißen Kakao in eine
große Tasse gießt. Wenn du dir so jemanden wünscht,
aber keiner da ist, dann ist das Sehnsucht.“
„Aber Kleine, machen denn das deine Eltern
nicht für dich?“
Das Mädchen sieht traurig zu Boden.
„Ich habe keine Eltern mehr, sie sind tot.“
„Aber wo wohnst du denn jetzt?“
„Ich wohne mit meinem Onkel
zusammen.“
„Kleine, das tut mir sehr leid, das mit
deinen Eltern, wirklich.“
„Es braucht dir nicht leid zu tun. Du
kannst doch nichts dafür.“ Immer noch hält das
Mädchen den Kopf gesenkt, aber der Mann kann die Träne,
die die Wange des Mädchens herunterkullert, sehen.
Unfähig, sie in den Arm zu nehmen oder anderweitig zu
trösten, reicht er ihr ein Taschentuch.
„Danke!“, sagt das Mädchen. Sie
trocknet sich die Augen und schaut ihn an. „Weißt du
was?“
„Nein, sag´s mir.“
„Ich möchte nicht erwachsen werden.
Wenn ich erwachsen bin, dann kann ich nicht mehr spielen, ich werde
traurig sein, ich werde hassen.“
„Nein, nein, so ist das nicht, Kleine.
Erwachsensein ist auch schön. Du wirst auch viel Freude
haben.“
„Du siehst nicht fröhlich aus. Du
lachst nicht. Warum lachen Erwachsene so wenig? Ich möchte
nicht erwachsen werden.“
Der Mann möchte noch etwas erwidern, aber
das Mädchen kommt ihm zuvor. „Ich muss jetzt heim, es
ist schon spät und nachher ist ja noch Bescherung.“ Sie
lächelt wieder.
„Natürlich. Ich fahr dich heim,
okay?“
„Ach, das brauchst du nicht. Ich wohne
nicht weit von hier, gleich neben dem Bahnhof.“
„Nein, ich bringe dich heim. Es ist kalt,
und außerdem fängt es an zu schneien.“
Sie fahren mit seinem Wagen durch die Stadt,
Richtung Bahnhof. Das Mädchen weist ihm den Weg, bis sie dann
schließlich vor ihrem Zuhause anhalten. Es ist das
Obdachlosenheim.
„Hier wohnst du?“, fragt der Mann
erschrocken.
„Ja“, lächelt das Mädchen,
„hier wohne ich.“
Dann fängt sie an zu lachen. „Warum
schauen mich alle immer so merkwürdig an, wenn sie erfahren,
wo ich wohne? Ich muss doch irgendwo schlafen. Und ich muss jetzt
auch los, sonst bekomme ich Ärger. Darf ich dich noch etwas
fragen?“
„Natürlich, Kleine.“
„Du hast gesagt, du hast nie Zeit zum
Spielen. Auch nicht mit deinem Jungen?“
„Doch, natürlich.“ Aber er
lügt, und er weiß das.
„Dann ist ja gut. Mach´s gut, es war
schön, mit dir zu sprechen.“
Das Mädchen öffnet die Tür, steigt
aus und winkt noch einmal. Der Mann winkt zurück.
Als das Mädchen schon die wenigen Stufen zum
Eingang des Heims hochgelaufen ist, hält es noch einmal inne,
dreht sich um und kommt zurück. Sie öffnet die
Fahrertür, umarmt den Mann und gibt ihm einen Kuss auf die
Wange.
„Fröhliche Weihnachten dir und deiner
Familie.“Dabei strahlt sie über das ganze Gesicht, bis
sie seine Tränen sieht. „Warum weinst du?“
„Ach, es ist nichts“, lügt er.
„Ich weine immer zu Weihnachten. Mach´s gut, Kleine. Und
auch dir ein Frohes Fest.“
Als der Mann dann heimkommt, lässt er die
Einkaufstaschen mit den Geschenken im Wagen. Seine Frau sieht in
verwundert an.
„Wo warst du denn so lange? Ich habe mir
Sorgen gemacht.“
„Ach, ich habe unterwegs noch einen
Bekannten getroffen. Wir haben uns verquatscht. Tut mir
leid.“
„Und die Geschenke? Hast du die Geschenke
für den Kleinen?“
„Warte es ab!“
Als dann die Bescherung eingeläutet wird, da
liegen unter dem Tannenbaum nur ihre Geschenke. Nichts von ihm. Sie
sieht irritiert aus. Er aber sagt nichts. Sie geben sich einen
Kuss, wünschen sich „Frohe Weihnacht“. Dann geht
er nach oben ins Kinderzimmer und kommt mit einem Kinderbuch
zurück. Er nimmt den Kleinen in den Arm, lässt ihn das
Buch durchblättern, erklärt ihm die bunten Bilder darin
und liest ihm Geschichten daraus vor. Diesmal gibt es keine Fotos,
auf denen das ultra-neue Hardcore-Spielzeug für Kinder im
Alter zwischen 3 und 6 Jahren abgelichtet wird. Keine Fotos, auf
denen der Junge – möglichst mit einem begeisterten
Gesichtsausdruck -
das sündhaft teure nächste Paket auspackt.
Diesmal gibt es das alles nicht. Nur Geschichten. Irgendwann
schläft der Junge dann ein.
Als sie den Kleinen zu Bett gebracht haben,
überreicht die Frau ihrem Mann ihre Geschenke. Er packt sie
wortlos aus: ein Buch, eine Armbanduhr und eine CD, die er sich
schon lange kaufen wollte.
„Danke, vielen Dank“, sagt der
Mann.
„Also, gefallen dir die Geschenke? Das
freut mich.“
„Ja, deine Geschenke gefallen mir. Aber das
meinte ich nicht.“
„Was denn dann?“, fragt die Frau
sichtlich irritiert.
Der Mann geht auf seine Frau zu und nimmt ihre
Hände in die seinen. Er hält sie an den Händen, und
diesmal nicht einfach so, nicht wie schon so oft, er hält sie
an den Händen mit einem bewussten Gefühl des Haltens. Mit
einem Gefühl voller Liebe.
So wie damals. Gott, wie lange ist das schon her?
Wie konnte ihre Liebe nur so selbstverständlich werden?
Der Mann blickt zu Boden.
„Ich möchte dir danken. Ich
möchte dir dafür danken, dass du meine Frau bist. Ich
möchte dir für all das, was du die Jahre über
für mich getan hast, danken. Ich möchte dir dafür
danken, dass du mich liebst. Ich möchte dir dafür danken,
dass du für mich da warst, wenn ich dich brauchte. Und ich
möchte dir aus dem tiefsten Inneren meines Herzens dafür
danken, dass es dich gibt.“
Er führt seine Frau zu dem runden Holztisch,
und während sie sich setzt, zündet er eine Kerze an und
stellt sie in die Mitte des Tisches. Er setzt sich ihr
gegenüber, dann fassen sich beide an den Händen, so dass
sie das leise flackernde Licht der Kerze umarmen. Er sieht in ihre
Augen, in denen sich das Kerzenlicht widerspiegelt. Was hat sie nur
für wunderschöne, sanfte, tiefbraune Augen!
Er hatte es beinahe vergessen.
Dann fragt er sie:
„Wie geht es dir?“
Und beide weinen.
-------------------------
Wenn Du jetzt einen lieben Menschen in den Arm
nehmen willst:
Dann TUE ES - JETZT !
Lass den Menschen wissen, wie sehr Du ihn/sie liebst.
Du brauchst nicht auf einen besonderen Anlass zu warten.
Du kannst es heute -einfach- tun !